Die Hauptstadt : Roman

Menasse, Robert, 2017
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Medienart Buch
ISBN 978-3-518-42758-3
Verfasser Menasse, Robert Wikipedia
Systematik D - Deutsche Literatur
Schlagworte EU, Vergangenheitsbewältigung, 7. Klasse, 8. Klasse, Brüssel, EU-Kommission
Verlag Suhrkamp
Ort Berlin
Jahr 2017
Umfang 458 S.
Altersbeschränkung keine
Sprache deutsch
Verfasserangabe Robert Menasse
Annotation Quelle: bn.bibliotheksnachrichten (http://www.biblio.at/literatur/bn/index.html);
Autor: Maria Schmuckermair;
Fein austarierte Schilderung der inneren Strukturen und Zustände am Hauptsitz der Europäischen Union. (DR)
Den Beginn dieses sehr feinmaschig gewebten Romans markiert Victor Hugos Sinnspruch, dass Träumen das Glück sei, Warten das Leben. "Fortsetzung folgt", heißt es abschließend, womit wohl angedeutet wird, dass das ambitionierte Projekt EU ein "work in progress" sei. Aufgefächert auf etwa zehn Personen (es sind dies eine Handvoll in den EU-Institutionen agierende Figuren sowie der in einem mysteriösen Mordfall ermittelnde Kommissar Emile Brunfaut, der den polnischen Auftragskiller jagt) wird ein diffiziles Bild der Europapolitik in Brüssel und der Mechanismen in ihren Institutionen gezeichnet. Die extrem tüchtige, talentierte und sehr hübsche griechische Zypriotin Fenia Xenopoulou ist, weil bald 40, von inneren Zweifeln geplagt. Sie leitet die Kommunikation im Alibiressort "Kultur" und hat das "Big Jubilee Project" an sich gezogen, das das EU-Image verbessern soll. Ihr wissenschaftlicher Mitarbeiter ist der Österreicher Dr. Martin Susman. Er ist bäuerlicher Herkunft und sein Bruder Florian, ein großer Schweinebauer und Standesvertreter, erwartet von ihm Lobbyismus in Brüssel, damit er Schlachtabfälle wie Schweinsohren an die Chinesen verkaufen darf. Der verwitwete DDr. Alois Erhart, emeritierter Volkswirtschaftsprofessor, soll in einem Think-Tank der Kommission ein Referat halten. Der in ein Altersheim übersiedelte, traumatisierte Holocaust-Überlebende David de Vriend soll für das "Big Jubilee Project" als Vorzeigefigur kontaktiert werden, denn eigentlich sollte die Union eine richtige Hauptstadt bekommen und die müsse Auschwitz sein. Nationalismus und Rassismus hätten zu Auschwitz geführt - und die Devise "Nie wieder Auschwitz" sei der Grund für das Einigungsprojekt gewesen.
Skurrile Elemente (ein Schwein galoppiert durch Brüssel - oder ist es ein Phantom?), eine Kriminalhandlung (im Hotel Atlas wird ein Mann erschossen, aber er bleibt unidentifiziert und wird rasch eingeäschert) und viele gut recherchierte Interna aus Brüssel fügen sich zusammen zu einem spannenden und aufschlussreichen kritischen Roman. Weite Verbreitung erwünscht!

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Quelle: Pool Feuilleton;
Große Gebilde lassen sich nur mit einem Roman großer Ironie darstellen. So handelt der berühmte Musil-Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" beispielsweise von einer Parallelaktion, in der es darum geht, die Jubiläumsfeiern des deutschen Reiches mit einer noch größeren der k. und k. Monarchie zu übertreffen.
Robert Menasse nimmt als Musil-Kenner diesen roten Faden von Großveranstaltungen auf, wenn es darum geht, einem ganzen Kontinent einen Sinn, eine Zukunft, eine Feier und vor allem eine Hauptstadt zu verpassen. Die Hauptstadt spielt in Brüssel, wo aus allen EU-Ländern Beamte, Lobbyisten und Adabeis zusammenströmen, um vor allem gut zu essen und diskrete Seitensprünge abzuarbeiten.
Leitmotiv für eine Boulevard-eske Perspektive ist ein Schwein, das an diversen Überwachungskameras vorbei ständig durch Brüssel läuft und die sprichwörtliche Sau darstellt, die durch das Dorf getrieben wird. Im Hintergrund freilich wird über industrielles Massakrieren von Schweinen verhandelt, Vertreter von Kleinbauern erinnern sich noch an die kleinen Höfe in Randlage der EU und stehen dem Massenwahn in Brüssel fassungslos gegenüber.
Eine Kulturreferentin aus Zypern wird beauftragt, eine Kampagne zu entwickeln, um den Ruf der EU zu verbessern. Unterstützt wird dieses Unterfangen von einem gewissen Martin Susmann, der eine Mischung aus Geschichtsaufarbeitung, Philosophie und Zukunftsgedanken entwickeln soll. In unzähligen Hearings und Arbeitsgesprächen versucht er so etwas wie eine imaginäre Parallelaktion zu entwickeln. Provokanter Höhepunkt ist die Überlegung, Auschwitz als (Gedächtnis-)Hauptstadt Europas auszurufen, denn letztlich lässt sich Europa nicht ohne den Holocaust denken.
Das lebende Denkmal der Vernichtung stellt David de Friend dar, er hat die Nazi-Herrschaft überlebt und ist in einem Altersheim gestrandet, mitten in der Stadt, mit Panorama-Ausblick auf den Friedhof. Seine Aufgabe ist es nun, Listen von Überlebenden zu erstellen, aber die Streichungen werden häufiger, bald wird niemand mehr da sein. Ausgerechnet er, der alles überlebt hat, stirbt bei einem Anschlag.
Eine Menge zeitgenössischer Stoff ist in Mittagsgespräche oder Presseaussendungen verpackt, sogenannte Geistergeher dringen als Migranten über Autobahnen nach Deutschland ein, je kleiner die Länder in Randlage sind, desto nationalistischer gebärden sie sich, im Hotel Atlas soll ein Mord vertuscht werden. Fakten, Analysen und Fakes schwirren durch die Hauptstadt wie eh und je. Am Schluss fällt jemandem auf, dass das Schwein schon eine Zeitlang nicht mehr gesichtet worden ist.
Der Roman ist nach mit einem Prolog, elf Kapiteln und einem Epilog ausgestattet. Beeindruckend sind dabei die Mottos, mit denen die Kapitel unterlegt sind und die etwas Archaisches wie Gesetzestafeln haben. "Letztlich ist der Tod auch nur der Beginn von Folgeerscheinungen." (77) "Erinnerungen sind nicht unzuverlässiger als alles andere, was wir uns ausmalen." (141) "Wenn etwas zerfällt, muss es Zusammenhänge gegeben haben." (401)
Helmuth Schönauer

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